Was wir sehen

Wir alle werden von Geburt an durch andere Menschen geformt. Wir wachsen mit anderen Menschen auf, die mit uns spielen, uns etwas zeigen, mit uns sprechen, uns zuhören und uns lehren. Die Menschen in unserem nahen Umfeld haben einen signifikanten Einfluss auf die Art und Weise, wie wir uns in dieser Welt wiederfinden, wie wir sie reflektieren und wie wir sozial eingebunden sind. Unsere Wahrnehmung wird dabei geprägt durch individuelle Vorannahmen, Bedeutungen (z.B. Glaube) und Erwartungen (Hoffnungen und Träume) und durch frühere Erfahrungen.

Aber nicht nur körperlich erfahrbare Situationen formen uns als Menschen. Auch Ereignisse, die in unserem Gedanken passieren haben Auswirkung auf uns als Person. Bücher, Geschichten und Theaterstücke geben uns die Möglichkeit die körperliche Welt zu verlassen und uns andere Welten vorzustellen. In Gedanken können wir an fremde Orte reisen und uns in andere Rollen hineinversetzen. Das bemerkenswerte daran ist, dass wenn wir uns Dinge vorstellen, dieselben Teile unseres Gehirns aktiviert werden, als wenn wir diese wirklich sehen und erleben würden. Biologisch gesehen ist also eine vorgestellte Wahrnehmung gleichbedeutend wie eine erlebte Wahrnehmung.

Was wir sehen, denken und fühlen beruht also auf unserer individuellen Geschichte. Diese Individualität der Wahrnehmung können wir anhand eines einfachen Versuchs erfahren: Beim Rorschach-Tintenklecks wird dem Betrachtenden ein bedeutungsloses Muster vorgelegt. Ein Großteil der Menschen erkennt in diesem Muster ein Bild oder fühlt sich an ein Objekt erinnert und greift mit dieser Interpretation auf seinen individuellen Erfahrungsschatz zurück.

Rorschach-Tintenklecks

Anders sehen

Der weltbekannte Neurowissenschaftler Beuau Lotto, der sich auf die Physiologie und Psychologie der Wahrnehmung spezialisiert hat, sagt: „Jede neue Wahrnehmung beginnt mit einer Fragestellung. Diese Fragen erzeugen jedoch Unsicherheit und Unsicherheit versucht der Mensch normalerweise zu vermeiden, da diese aus evolutionärer Sicht Gefahr bedeutet. Die Ironie ist jedoch, dass wir nur dann neues Erfahren können, wenn wir uns auf diese Unsicherheit einlassen.“

Uns Menschen hat die Evolution glücklicherweise ein Werkzeug mitgegeben, mit dem wir uns dem Problem der Unsicherheit stellen können, nämlich die Wissenschaft. Mit Hilfe der Wissenschaft können wir uns unerschrocken jenen Fragen widmen, die alles Bisherige in Frage stellen und damit größtmögliche Unsicherheit erzeugen. Sie gibt uns die Möglichkeit die Art und Weise wie wir uns selbst, die Welt um uns herum und die Zukunft wahrnehmen zu verändern.

Wissenschaftliches Arbeiten

Wissenschaft ermöglicht es uns vielfältige Erfahrungen zu machen. Beispielsweise können wir durch die Anwendung spezieller Technologien das Unsichtbare sichtbar machen. Denken wir nur an das Teleskop oder das Mikroskop die unseren Erlebnishorizont enorm erweitern. Diese Technologien erlauben es uns in Welten einzudringen, die uns mit unserem bloßen Auge verborgen bleiben würden.

Der Forschungsablauf in der Wissenschaft ist klar geregelt. Am Anfang gilt es eine Frage zu stellen und sich darüber Gedanken zu machen, worin die Bedeutung dieser Fragestellung liegt. Im Anschluss überlegt man sich eine Methode, mit der man seine Fragestellung überprüfen kann. Das kann zum Beispiel ein Experiment sein. Nach erfolgreicher Umsetzung der gewählten Methode werden die Ergebnisse und Beobachtung zusammengefasst. Zu guter letzt beschäftigt man sich mit der Frage: „Was bedeuten meine Ergebnisse und Beobachtungen?“.

Wissenschaft ist für alle

Bei Wissenschaft handelt es sich nicht um eine Schularbeit, die man in einem Fach schreibt oder nur das, was in den Laboren auf den Universitäten dieser Welt stattfindet. Wissenschaft ist vielmehr eine Art zu Sein. Denn wir alle haben komplexeste Aufgaben in unserem Alltag zu erfüllen. Wir sollen verständnisvoll, kreativ und innovativ sein. Meistens gehen wir aber nur reagierend durchs Leben und dabei sind unsere Reaktionen geprägt von unserer individuellen Geschichte.

Wenn wir jedoch jemals etwas anders machen möchten, müssen wir uns in das Feld der Unsicherheit begeben und dürfen uns nicht davor fürchten. Nur wenn wir Unsicherheit zulassen und uns dieser stellen, können wir die Welt jemals mit anderen Augen sehen.

Abschließen möchte ich diesen Beitrag mit einem Zitat von Anton Zeilinger. Er sagt: „Man muss als Wissenschaftler bereit sein, alles was man je gemacht hat, in Frage zu stellen.“

Marco Köb

Links:

http://www.physikmobil.at/

https://www.mint-vk.at/

https://science.orf.at/stories/3215393/

Buchempfehlung:

Anders sehen: Die verblüffende Wissenschaft der Wahrnehmung von Beau Lotto

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